Das römische Verfahren




Überraschenderweise veröffentlichte im elften Jahr nach Anthony de Mellos Tod mit Datum vom 24. Juni 1998 die vatikanische Kongregation für die Glaubenslehre eine "Notification", die sein Werk kritisiert und dazu auffordert, "die Gefahren in den Schriften von Pater Anthony de Mello oder in den ihm zugeschriebenen Texten zu benennen und die Gläubigen vor ihnen zu warnen". Was hinter den vatikanischen Mauern verhandelt wird und wer da einzeln oder gemeinschaftlich etwas erarbeitet, wird man vermutlich nie befriedigend erfahren. Insofern lässt sich über die Gründe und Hintergründe für die ein Jahrzehnt nach Anthony de Mellos Tod zweifellos überraschende Verlautbarung im Namen der vatikanischen Kongregation nur spekulieren. Von außen lässt sich lediglich konstatieren, dass in den Jahren zuvor die Bücher Anthony de Mellos weltweit wirklich beträchtliche Verkaufszahlen erreichten. Und dass tatsächlich einige seiner Texte nur schwer mit der offiziellen römisch-katholischen Glaubenslehre zu vereinbaren sind.

Anthony de Mello war kein systematischer Theologe, er hat nie eine neue Lehre auf- oder die kirchliche grundsätzlich in Frage gestellt. Man darf wohl berechtigt bezweifeln, dass von seinem Werk mehr als das Praktische und Atmosphärische bei seinen Lesern und Zuhörern Niederschlag gefunden hat. Martin Kämpchen, seit Jahrzehnten in Indien lebender (deutscher) Autor, hat das Anliegen und die theologische Bedeutung von Anthony de Mello treffend charakterisiert: bitte hier klicken Insofern kann es nicht überraschen, dass Anthony de Mello im theologischen wie auch kirchlichen Diskurs der Gegenwart keine Rolle spielte und spielt. Selbst die mit der "Notification" faktisch ausgesprochene Indizierung fand weltweit nur eine sehr begrenzte theologische Beachtung. Es sind praktische "Lebensweisheiten", geistliche wie profane, durch die Anthony de Mello beeindruckte und derart bekannt wurde, sicher nicht zuletzt auch durch ihren vielfach humorvollen Charakter. Und entsprechend werden seine Texte fortwährend als Materiallager für Geschenkbücher genutzt.

Deswegen setzt die vatikanische "Notification" im Grunde nicht richtig an, indem sie theologisch und systematisch den Nicht-Systematiker Anthony de Mello betrachtet. Vielleicht wäre es lohnender gewesen, Anthony de Mello mit derselben Kritik ohne jede regulative Absicht schon zu Lebzeiten zu konfrontieren, um den sprachlich sehr gewandten und hochbegabten Jesuiten zu einer stärkeren auch theologischen Reflexion seiner Äußerungen zu veranlassen. Freunde hatten ihn "dringend gebeten und immer wider aufgefordert, mit aller Kraft und Klarheit des Ausdrucks, zu der er fähig war, den Kern seines Wertesystems und seiner Glaubensvorstellungen systematisch und schriftlich niederzulegen. ... Seine Antwort war, dass er so etwas niemals machen würde." (Carlos G. Vallés: Nachgedanken über Anthony de Mello 15) Ob er dies nur aus Vorsicht oder nicht auch aus Unlust nicht wollte, lässt sich nur vermuten. Fest steht jedenfalls, dass es ihm nicht wichtig genug war. Dann aber sollte man ihn auch nicht an der falschen Stelle eine Ehre, nämlich die eines wichtigen Theologen, zuteil werden lassen.
Entsprechend muss man ebenfalls der vatikanischen Verlautbarung zu ihrem eigentümlichen Veröffentlichungszeitpunkt nicht mehr Bedeutung beimessen, als sie in diesem Sinne verdient. Andererseits könnte sie dazu motivieren, das Werk Anthony de Mellos nicht allein den Geschenkbücher-Machern zu überlassen, sondern sich nach bedenkenswerten Inhalten anzuschauen - etwa in Aspekten der Annäherung der Religionen oder mit Blick auf eine narrative Glaubensvermittlung. Ist hier etwas, das weitergeführt werden sollte, wird hier auf neue Aspekte aufmerksam gemacht oder auf bekannte Aspekte in einer neuen Herangehensweise? Wenigstens diese Diskussion sollte noch geführt werden, und wahrscheinlich wird Anthony de Mello dabei nicht viel mehr als ihr Impulsgeber sein, denn seine Arbeitsweise liefert auch z.B. für neue Entwürfe nicht die grundlegende Reflexion, die es nunmal auch braucht.

Der traditionsreiche Verlag Herder, Freiburg, der das Werk Anthony de Mellos in Deutschland vermarktet, druckt seit Erscheinen der "Notification" folgenden Passus seinen Büchern ein:
"Die Bücher von Anthony de Mello entstanden in einem multireligiösen Kontext und sollten Anhängern anderer Religionen, Agnostikern und Atheisten eine Hilfe bei ihrer geistlichen Suche sein. Dieser Intention des Autors entsprechend, sind sie nicht als Darstellungen des christlichen Glaubens oder als Interpretationen katholischer Dogmen zu verstehen. (X. Diaz del Rio S.J., Gujarat Sahitya Prakash)."



Dass es sich hier um eine Schutzbehauptung für den Jesuitenorden wie für den Verlag handelt, ist offensichtlich, und dass sie heftig übertreibt, ebenfalls. Jemandem, der nie mit der Absicht hervorgetreten ist, katholische Dogmen interpretieren zu wollen, braucht man dies auch nicht zu bescheinigen. Fragwürdig ist in jedem Fall die Aussage, Anthony de Mello habe nur für die "Anhänger anderer Religionen, Agnostiker und Atheisten" geschrieben. Die Christen hatte er nicht im Blick? Der Verlag will nur christliche Leser darauf hinweisen, dass nicht sie die Adressaten dieser Bücher sind? Nicht zu glauben!

Warum, darf man fragen, kann man nicht einen ehrlicheren Umgang mit Anthony de Mello betreiben? Weder ist es nötig, in ihm einen Heiligen zu sehen, noch muss man sich oder andere vor seinen Schwächen schützen. Wie jeder andere Mensch hatte er Licht- und Schattenseiten, und wie bei jedem anderen Menschen auch sollte man von ihm lernen, was er zu lernen gibt - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ohne Zweifel hat man Anthony de Mello zu einem Star gemacht, weshalb es nun so schwierig ist, zu einem adäquaten Umgang mit seinem Nachlass zu kommen.
Um zu einer realistischen Einschätzung Anthony de Mellos zu gelangen sind zweifellos die beiden Bücher von Carlos G. Vallés
Frei und unbeschwert
   und
Nachgedanken über Anthony de Mello sehr hilfreich. Vallés - ebenfalls jahrzehntelang als Jesuitenpater in Indien tätig - kannte nicht nur Anthony de Mello aus langer Zusammenarbeit, er wurde mit ihm verwechselt, wurde als sein Nachfolger und Vermittler angesehen. "Frei und unbeschwert" führt in Anthony de Mellos Spiritualität ein, die "Nachgedanken" wissen über Fragwürdiges bei Anthony de Mello aufzuklären, ohne ihn zu skandalisieren, und bezeugen schließlich eine kritische Sympathie. Diese Werke sind die einzigen, die sich auch der Person Anthony de Mellos widmen, und von daher ganz besonders wichtig. "Für mich ist ein ganzheitlicher Tony wichtiger als ein 'Tony light'", schreibt Vallés pointiert (Nachgedanken 113). Anthony de Mello hat selbst immer wieder dafür geworben, sich den Blick nicht zu verstellen. So sehen wir es als unsere Aufgabe an, mit dieser Website wenigstens das vorhandene Material zur Verfügung zu stellen, um einen ganz offenen Blick zu ermöglichen.

Die Veröffentlichung des Textes der "Notification" erfolgte in englischer Sprache im Vatikan-Informationsdienst bzw. in den AAS 90 (1998) 833-834 und EV 17, 730-743 unter dem Titel "Notification concerning the writings of Father Anthony De Mello, S.J. (Notificatio circa scripta Patris Antonii De Mello, S.I.), June 24, 1998" mit Übersetzungen ins Spanische und Portugiesische. Die vatikanische Informationsdienst machte Verlautbarung auch im Internet erreichbar (dort Nr. 47). Die sehr aufschlußreichen Erläuterungen der eigentlichen "Notification" legte die Kongregation nur in englischer Sprache vor.

Sie finden hier:
· die offizielle englische Version der "Notification" (ohne die Erläuterungen),
· die offizielle spanische Version,
· die offizielle portugiesische Version,
· unsere eigene Übersetzung ins Deutsche,
· unsere eigene Übersetzung der umfangreicheren vatikanischen Erläuterungen 61 KB.

Ferner finden Sie hier die Stellungnahme von Bill de Mello, dem Bruder Anthonys, dessen ausführliche Biografie Anthonys wir ebenfalls auf dieser Website präsentieren.
Bill de Mello fordert die Leser zu Recht auf, sich mittels Lektüre der Bücher seines Bruders eine eigene Meinung zu bilden. Auch die Biografie, die gewiss von der positiven Sicht des jüngeren Bruders geprägt ist, vermittelt viele wichtige Aspekte in Hinblick auf den familiären und damit persönlichen Hintergrund des Jesuiten.

Bitte prüfen Sie selbst! Anders als die vatikanische Verlautbarung, die wie erwähnt die Gläubigen zu schützen müssen glaubt, vertrauen wir darauf, dass mit dem Material dieser Website Recht-, Anders- und Nichtgläubigen eine qualifizierte Einschätzung Anthony de Mellos möglich ist. Auch für sein Werk gilt ganz einfach der Satz des Apostels Paulus (1 Thess 5,21): "Prüfet alles und bewahret das Gute!"

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