Gertrud Erni, Christsein
– evangelikal und esoterisch. Erlebnisse, Auseinandersetzungen und Wegsuche,
Claudius Verlag München 1995, DM 19,80.
Für diese Neuerscheinung war
mit dem Verweis darauf geworben worden, bei der Suche nach dem eigenen
Weg sei für die Autorin der sakrale Tanz „zur notwendigen Erfahrung"
geworden, außerdem seien dadurch „Ereignisse" ermöglicht worden.
Wenn das auch noch nicht gerade viel aussagt, so macht doch der Name der
Autorin aufmerksam, denn die Schaffhausenerin leitet nicht nur Seminare
im Bereich von Lebensgestaltung, Meditation und Selbstwerdung an, sondern
gehört auch in der „Szene" des Meditativen Tanzens der Schweiz zu
den Rührigen. Außerdem scheint es nicht uninteressant, wie die
engagierte Christin und Ehefrau eines Pfarrers Meditatives Tanzen im Verhältnis
zur Esoterik sieht.
Das Buch ist in der Hauptsache eine
Schilderung des Befreiungsprozesses der Autorin aus einer von Verbotstafeln
gesäumten religiösen Welt in ein freiheitliches Denken mit Hilfe
der Esoterik. Als Theologe empfinde ich es als etwas erschütternd,
solchen Sätzen zu begegnen wie: „Ich war von der Welt des Esoterischen
fasziniert. Vor allem die Botschaft, daß wir auf dieser Erde seien,
um mitzuhelfen, sie heller zu machen, berührte mich." (77) oder der
Gegenübersetzung von „evangelikal-gesetzlich" und „esoterisch-freiheitlich"
(106). Weil die Botschaft des Paulus von dem von der Gesetzesknechtschaft
freimachenden Evangelium oder Luthers Verkündigung der bereits geschenkten
Rechtfertigung wohl in den Kreisen, in denen sich die Autorin bewegte,
anders klangen, mußte nun erst die Esoterik kommen, um Befreiung
und Licht zu bringen. Erst durch die Faszination esoterischer Gegenstände
und Rituale gelingt es Gertrud Erni, die Angst vor angeblich unchristlichen
Empfindungen zu überwinden und das „Alles ist mir erlaubt" des Paulus
(1 Kor 6,12) anzunehmen.
Auffällig ist, daß die
Autorin von „der Esoterik" stets wie von einem Ganzen und nicht primär
von einem Sammelbegriff schreibt. Tatsächlich kann sie aber auch fast
allem etwas abgewinnen und stellt diese Lehren – vom Verlag optisch gut
abgesetzt – der Reihe nach in ihren Erlebnisschilderungen eingeschoben
kurz vor: Ökumene, Autogenes Training, Bachblüten-Therapie, TZI,
Mandalas, Yoga, Reiki, Meditatives Tanzen, Tänze des universellen
Friedens, Vaterunser-Chakren-Meditation, Edelsteine, Astrologie, Labyrinthgänge,
Fußsohlenreflexmassagen sowie etliche Aussagen C. G. Jungs und noch
einiges mehr finden bei ihr eine mehr oder weniger große Resonanz
– wobei man sich wundern darf, Ökumene, Autogenes Training und TZI
in die Esoterik eingeordnet wiederzufinden.
Was hat der Autorin nun die Esoterik
gebracht? Weshalb kann sie uns Leserinnen und Lesern empfehlen, uns auf
die verschiedenen esoterischen Bräuche und Erkenntnisse einzulassen?
– Nicht aus Berührungsängsten, sondern weil mir etwas anders
als der Autorin nicht so viele esoterischen Felder als bedeutend erscheinen,
möchte ich mich hier nur auf die von ihr selbst praktizierten Leibesübungen
beschränken.
Schaut man sich Gertrud Ernis Ausführungen
zum Meditativen Tanzen näher an, erfährt man im Grunde trotz
der einführenden und informierenden Absicht des Buches und im Gegensatz
zur proklamierten großen Bedeutung dieser Tanzweise kaum etwas Näheres
darüber. Dem Meditativen Tanzen sind nur wenige Seiten gewidmet, die
jemanden, der sich nicht noch anderweitig eine Einführung besorgt,
kaum weiterhelfen werden: „Die Wurzeln dieser meist einfachen Kreistänze
liegen im Volkstanz und im sakralen Tanzen. Tanzwege, Schritte und Gebärden
wirken vor allem durch die Wiederholung. ... senken sich tief in die Seele
und haben heilende Wirkung. Das sakrale Tanzen ist ein mystischer Weg."
(104) „In der Wiederholung wirken die Schritte und Gebärden des Tanzes
heilend – sie senken sich tief in unsere Seele." (118) „Meditatives Tanzen
ist ein heilsamer Weg. Seine heilsame Wirkung entfaltet es meist ganz behutsam
und kaum wahrnehmbar. Doch noch die kleinsten Schritte wollen beachtet
sein." (119) „Tanzend können wir uns an die Kräfte der Schöpfung
anschließen, damit sie ihre heilende Wirkung an uns entfalten können."
(121) – Als Belege für diese fortgesetzte Rede von den heilenden Wirkungen
des Meditativen Tanzens, das für sie wohl das wesentlichste Charakterstikum
ist, erzählt die Autorin nun zwei Begebenheiten, in denen Frauen meditativ
tanzend psychische bzw. somatische Schmerzen verlieren konnten. Einschränkend
fährt sie fort: „Solche kleinen ‘Wunder’ sind vielleicht eher die
Ausnahme. Sie machen uns aber bewußt, das Meditatives Tanzen heilende
Wirkung hat. Auch in ganz unscheinbaren Vorkommnissen." (121) – Der einzige
erklärende Satz für dieses anscheinend geheimnisvolle Wirken
des Meditativen Tanzens findet sich erst nach einigem Suchen und lautet
lapidar: „Die Wiederholung hilft uns, erinnernd durchzuarbeiten, was noch
unklar ist." (118) Noch lapidarer klingen die beiläufigen Feststellungen:
„Die Meditation im Tanz kann als ein mystischer Weg erfahren werden." „Im
Meditativen Tanzen rühren wir an das Geheimnis der Mystik." (118)
Solche unverbindlichen Allgemeinplätze sind neben einer Schwärmerei
darüber, wie wunderbar es ist, schon alles, was Gertrud Erni zum Meditativen
Tanzen zu sagen hat. Für eine Musiktherapeutin und reflektierende
Christin als Autorin ist das jedoch sehr wenig, mir entschieden zu wenig.
Weder die therapeutische noch die spirituelle Tiefe eines meditativen bzw.
meditierenden Tanzens ist hier auch nur annähernd erfaßt, seine
tatsächliche Bedeutung erscheint mehr vernebelt als erschlossen. Nicht
das Wesen noch die Wirkungen des Meditativen Tanzens werden irgendwie reflektiert.
Die Ausführungen über
die „Tänze des universellen Friedens" nach Samuel L. Lewis sind nicht
mehr als eine knappe Erläuterung dieses Tanzverständnisses und
eine kurze eigene Erlebnisbeschreibung.
Mehr Aufmerksamkeit dagegen widmet
die Autorin der Vaterunser-Chakren-Meditation (nach Arnold Bittlinger),
die sie selbst auszugestalten und weiterzuentwickeln angibt. Chakren, deren
Herleitung aus dem Sanskrit erfolgte, werden beschrieben als sieben „Energiezentren"
im menschlichen Leib. Bittlinger und Erni zufolge sind diese nun dem Vaterunser
und dem „Weg der Individuation" parallel zuzuordnen. Allerdings muß
dabei das Gebet des Herrn zeilenweise von hinten nach vorne meditiert werden,
weil sonst die Erdung fehlte, denn die Chakren werden besser von unten
nach oben verfolgt. Sinn der Arbeit mit den Chakren ist es, „unsere Energiezentren
(zu) beleben und (zu) aktivieren, so daß sie uns Körper, Seele
und Geist nähren." (128) Sonst ist auch hier wieder nichts Näheres
über die „Wirkungen" der aktivierten Chakren zu finden. Kurz gesagt
handelt es sich bei dieser Meditation um eine gleichzeitige Leibbewußtseinsübung
und eine Vaterunser-Meditation, in dessen Folge sich eine innere und äußere
Gelassenheit einstellen kann in dem Bewußtsein der Gegenwart Jesu.
Abgesehen davon, daß das nicht so etwas ganz Neues darstellt (vgl.
Eutonie), erscheinen die Zuordnung zum Vaterunser insgesamt wie die Ausführungen
im einzelnen als nicht besonders überzeugend (vgl. Aussagen wie: „Im
Kreuz sind Gott und Satan, das Ja und das Nein zu einem Ganzen geworden."
„In dir, Gott, ist alles enthalten: ... Das Böse und das Gute." 130f).
Der Versuch, auf diese Weise Östliches mit Westlichem zusammenzubringen,
wirkt nicht sonderlich gelungen, eher schon krampfhaft. Warum soll z.B.
das Sonnengeflecht eine besondere Beziehung zu der Bitte „Führe uns
nicht in Versuchung." haben? Und grundsätzlich frage ich mich bei
solchen Modellen immer, wie man sich so einfach eine ferne Lehre aus einem
uns so unbekannten Kontext herausreißen kann, um sie dann nach Gutdünken
in unserem ganz anderen Kontext zu verwerten.
Gertrud Erni vermag sich glaubhaft
vom „esoterischen Supermarkt" (90), wie sie das selbst nennt, zu distanzieren,
auch von der Sucht, stets etwas Neues zu konsumieren und auszuprobieren,
wie sie das in den einschlägigen Kreisen beobachtet (95). Man könnte
meinen, daß sie nun kundig wäre im Gewirr der esoterischen Angebote.
Jedoch macht sie auf mich trotz ihrer Begeisterung dafür nicht den
Eindruck, in diesen Dingen, die sie vorstellt, souverän zu sein. Es
scheint ein bißchen wie im Märchen: Staunend steht sie inmitten
einer neuen, phantastischen Welt, in der die Bäume und Tiere plötzlich
zu sprechen begonnen haben. Die Hauptgestalten solcher Märchen überwinden
meist ihre Angst und gelangen deshalb ans Ziel. Auch Gertrud Erni hat ihre
Angst vor den vielen Verbotstafeln ihres engen Glaubensumfeldes verloren,
und das zu verfolgen, kann lehrreich sein, denn auch andere Menschen trauen
sich nicht an die esoterischen Blumenwiese heran. Aber leider hat jedes
Märchen einmal ein Ende, an dem man dann hoffentlich nun besser weiß,
wie die ganz unromantische Alltagswelt zu bewältigen ist. „Wahre Spiritualität
ist und bleibt Spiritualität im Alltag." (92) schreibt Gertrud Erni
ganz zu Recht. Dafür habe ich leider aus diesem Buch nicht viel gewinnen
können.
Gereon Vogler
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