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Anselm Grün: Gebetsgebärden. in: Lexikon für Theologie und Kirche, hg. v. Walter Kasper u.a., Freiburg / Basel / Wien ³1996, Bd. 4, 322-323.

Die allmählich erscheinenden Bände der dritten, völlig neuerarbeiteten Auflage des renommierten Lexikons für Theologie und Kirche haben einen kleinen Artikel den Gebetsgebärden gewidmet. Dieser Artikel ist so geringen Umfanges, daß man ihn leicht vollständig anführen kann: 

„Gebetsgebärden. Die Gebärden, mit denen der Mensch betet, sind in allen Kulturen fast gleich. Offensichtlich haben die Menschen eine gemeinsame Sprache des Leibes, um ihre Beziehung zu Gott ausdrücken. In der Bibel vollzieht sich das Gebet immer leibhaft. Beten heißt für 1 Tim, die Hände zu Gott zu erheben. Die G. drücken unsere Erfahrungen u. Ahnungen v. Gott aus. Wenn wir einen inneren Gebetsimpuls spüren, drängt es uns, ihn mit dem Leib auszudrücken. Die G. können aber auch bestimmte Erfahrungen hervorrufen. Wenn die Gemeinde niederkniet, dann prägt das nicht nur die gemeinsame Atmosphäre, sondern kann dem einzelnen etwas v. der Größe Gottes vermitteln. Im Stehen erfahren wir uns als Partner Gottes. Vor Gott können wir zu uns stehen. Durch die Auferstehung Jesu hat Gott uns aufgerichtet u. uns eine göttl. Würde geschenkt. Das Sitzen ist entw. ein hörendes, gesammeltes Sitzen od. ein Thronen, in dem wir teilhaben an der Herrschaft Gottes. Im Knien fallen wir vor Gott nieder, weil er Gott ist. Knien heißt anbeten, sich selbst vergessen, um Gott Gott sein zu lassen. Entscheidend ist die Haltung der Hände und Arme. Die erhobenen Hände (die Orantenhaltung, Orans) öffnet uns für Gott u. läßt uns an der Weite Gottes teilhaben. Die nach vorne erhobenen Hände stellen die älteste Segensgebärde (Segen) dar. Die Hände können gefaltet (= Sammlung und Hingabe), verschränkt (= Ringen mit Gott) od. über der Brust gekreuzt werden (= Gebärde der Intimität, die den Raum Gottes in uns liebend beschützt). Die G. bringen uns in die Beziehung z. Gott u. haben heilende u. ordnende Wirkung auf Leib u. Seele.
Lit.: Th. Ohm: Die G. der Völker u. das Christentum. Lei 1948; A. Grün – M. Reepen: G. Münsterschwarzach 1988."

Dieser kleine Artikel ist bezeichnend für die so kleingeschriebene Beschäftigung mit dem Leibbezug unserer Spiritualität: eine kurze geistliche Darlegung aufzählenden Charakters ohne eine erkennbare Auseinandersetzung mit dem Thema. Bereits der erste Satz läßt stocken: Die äußerliche Ähnlichkeit von Gebärden bedeutet noch nichts an innerer Vergleichbarkeit dessen, was mit diesen Gebärden ausgedrückt wird. Welche Religionen würden sich beispielsweise ebenfalls wie Anselm Grün im Stehen als „Partner" Gottes erleben? Von solchem zeitbedingten Denken und Empfinden abgesehen könnte man in der Vergleichenden Religionswissenschaft lernen, daß „Religion" durchaus nicht gleich „Religion" ist, sondern z.B. im Sich-Hinwenden zu „Gott" sich gravierend unterscheidet (vgl. die Arbeiten Carsten Colpes). Entsprechend differiert auch das, was Gebetsgebärden symbolisieren. Doch die alte Mär von einer universellen Gebetsgebärdensprache ist anscheinend unausrottbar. – Ebenso klischeehaft fällt die nun folgende Feststellung des Autors aus, in der Bibel vollziehe sich das Gebet immer leibhaft. Natürlich, selbst Sprechen und Denken gehen nur leibhaft vor sich. Aber nicht von ungefähr hat etwa Bernhard Lang (Das tanzende Wort. Intellektuelle Rituale im Religionsvergleich, München 1984) herausgestellt, daß sich bereits das biblische Judentum zur Buchreligion und zur vorherrschenden Verbalisierung (z.B. in der Synagoge) entwickelte und der leibliche Ausdruck ganz und gar nicht der wesentliche war. Es war nicht immer früher alles besser! – Über die Deutungen, die der Autor den Gebärden und Haltungen zulegt, darf man sehr geteilter Meinung sein. In solchen Interpretationen wie z.B. den verschränkten Händen als ein „Ringen mit Gott" bezeugt sich gerade noch einmal die Nicht-Universalität der „Gebetsgebärden" (lange nicht bei jeder Gottesvorstellung kann man mit Gott ringen!) bzw. gar die Individualität des Empfindens, denn der von Grün genannte Thomas Ohm hat ganz anderslautende Interpretationen zu dieser Gebärde gesammelt.
Was dem benediktinischen Autor merkwürdigerweise leider ganz abgeht, ist die Perspektive für die Liturgie. Hier wäre nicht nur mindestens davon zu reden gewesen, daß bei den vorgesehenen Vorstehergebärden eine andere Bewußtheit als die bisherige überfällig ist. Man hätte auch vom bewußten leiblichen Vollzug der Gemeinde in der Liturgie schreiben müssen: von der nicht mehr sonderlich neuen Einsicht, daß die Gemeinde ihr (vom Vorsteher vorgetragenes) Gebet auch leiblich zum Ausdruck bringt bzw. erlebt, vom klaren Sinn gemeinsamer Gebetsgebärden von Vorsteher und Gemeinde, von der Vertiefung liturgischer Handlungen durch Gebärden usw.
Sicher ist grundsätzlich positiv zu werten, daß Anselm Grün aus einem geistlichen Ansatz heraus schreibt. Aber die Aufgabe eines Lexikonartikels besteht vor allem im Überblick über den gegenwärtigen Stand der Erkenntnis und über die aktuelle Diskussion sowie in der Skizzierung einer Perspektive. Wenn sich ein Autor nicht der Mühe unterzieht, diesen Überblick zu gewinnen, sollte er nicht mit einem solchen Artikel betraut werden. Denn hier ist nun unnötigerweise eine wichtige Chance gründlich vertan!

Gereon Vogler
 
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