Die
erste Begegnung
Am Nachmittag des 29. Juli 1944 rannte ein 13-jähriger
Junge von seinem Zuhause in die Geburtsklinik von Bombay, Indien,
um dort seine Mutter zu besuchen. Seine Gedanken rasten schneller
als seine Beine, denn für ihn war eine Sternstunde des
Schicksals angebrochen.
Die Zukunft des Jungen würde goldglänzend sein, wie
in seinen Träumen und Plänen - wenn
der Neugeborene ein Junge wäre. Eisern jedoch wäre
seine Zukunft, wenn das Neugeborene ein Mädchen wäre
- denn dies würde für seine Zukunft eine Lehrzeit
bei der Eisenbahn bedeuten.
Der 13-jährige war Anthony de Mello, Tony, und der Neugeborene
war - ich, Bill. Als Tony mich sah, brach es voll Freude aus
ihm heraus: "Jetzt kann ich doch Priester bei den Jesuiten
werden!"
Die letzte Begegnung
Am Abend
des 31. Mai 1987 traf ein 56-jähriger Mann seinen 43-jährigen
Bruder in New York. Der ältere war Tony de Mello SJ, ein
weltbekannter spiritueller Meister, und der jüngere war
ich, Bill de Mello, ein wenig bekannter Laie. Die Begegnung
fand in der Fordham Universität im Stadtteil Bronx statt.
Ich kann mich an diese Begegnung noch so gut erinnern, als wäre
sie erst gestern gewesen, so oft habe ich sie mir immer wieder
vergegenwärtigt. Wir hatten zusammen in der Kantine zu
Abend gegessen, und Tony zeigte sich dabei, wie immer, sehr
am Wohlergehen anderer Menschen interessiert. Er drang darauf,
dass wir das Essen so bald wie möglich beendeten, damit
die Mitarbeiter dort endlich nach Hause gehen konnten.
Tony war in die USA gekommen, um Seminare und Workshops über
Spiritualität zu halten, die über eine Satellitenverbindung
gleichzeitig an 600 Universitäten und Colleges in den USA
und Kanada mitverfolgt werden konnten und diese verbanden. Ich
selbst weilte gerade in den USA im Auftrag meiner australischen
Arbeitgeber, um an einem besonders interessanten globalen Projekt
mitzuarbeiten. Früh am Tage hatte Tony mir noch versichert,
dass er sich von dem Jet-lag (körperliche Symptome nach
langen Flugreisen mit erheblichem Zeitunterschied) nach dem
langen Flug von Indien in die USA erholt habe.
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Im
Laufe des Abends jedoch äußerte Tony, dass er Magenprobleme
habe. Das hätte eigentlich bei mir ein Alarmsignal auslösen
müssen, denn Tony klagte sonst nie... Seine innere Einstellung
war ein friedliches Annehmen von jedem und allem, was ihm im
Leben zustieß.
Nach dem Abendessen saßen wir noch zusammen und sprachen
miteinander. Er verließ mich kurz, um ein Medikament einzunehmen,
das jedoch nicht zu helfen schien. Was wir so schön als
einige kostbare Stunden, die wir ganz für uns allein verbringen
konnten, geplant hatten, wurde durch sein zunehmendes Gefühl
des Unwohlseins getrübt. Schließlich sagte er, dass
er müde sei und zu Bett gehen wolle. Vor unserem Abschied
verabredeten wir noch, uns später im Jahr in seinem Seminarhaus
in Indien wieder zu treffen. Unsere letzten gemeinsamen Minuten
galten einer sehr herzlichen Umarmung, und wir verabschiedeten
uns voneinander mit unterdrückter Emotion.
Am nächsten Morgen fand man Tony tot auf dem Fußboden
seines Zimmers.
Einen Tag später wurde Tonys Leichnam in der Kapelle der
Fordham Universität aufgebahrt. Er sah so unglaublich lebendig
aus, dass ich weder richtig glauben noch akzeptieren konnte,
dass er tot war. Ich brach zusammen, schluchzend... Wir hatten
so viele spirituelle Fragen zwischen uns ungeklärt gelassen.
Ich durchlebte die üblichen Gefühlsabfolgen: Zorn...
Warum musste er sterben? Trauer... Ich werde ihn nie
wiedersehen. Schmerz und Schuld... Ich hätte ahnen
können, dass sich bei ihm ein Herzanfall ankündigte
und hätte etwas machen müssen! Hauptsächlich
aber Schock und Nicht-wahr-haben-Wollen... Wie kann ein anscheinend
gesunder Mensch, der nur wenige Monate vorher von einem anerkannten
amerikanischen Herzspezialisten einen guten Gesundheitszustand
bescheinigt bekommen hatte, so plötzlich an einem Herzanfall
sterben? Wie soll man das nennen: Schicksal, Bestimmung oder
Gottes Wille? All diese Fragen werden unbeantwortet bleiben,
bis wir Brüder einander wiedersehen - wer weiß wo,
wer weiß wann?
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