Die
Gebrüder de Mello
Tony und ich waren sowohl körperlich als auch geistig sehr
verschieden. Während ich ein großer Freund von Fußball,
von Hockey und Leichtathletik war, hatte Tony "zwei linke
Füße".
Wo Tony große Schlucke aus dem Brunnen des Glaubens nahm
- da brachte ich es höchstens zu einem Gurgeln. Er war
ein überzeugter Gläubiger - ich ein Zweifler. In der
Schule wurde mir der Katechismus eingetrichtert, und nie werde
ich die Definition für "Glauben" vergessen, die
dort angeführt wurde: "Glaube ist ein übernatürliches
Geschenk Gottes." Dieses Geschenk wurde Tony in der Größenordnung
einer Lastwagenladung gemacht - zu mir gelangte nur so viel,
wie in eine Streichholzschachtel passt. So sehr wie Tony von
Natur aus religiös veranlagt war, war ich von Natur aus
indifferent. Glaube hat in mir nie gezündet - nie war ich
vom Glauben entbrannt. Doch trotz all dieser Unterschiede hat
die Kraft der brüderlichen Verbundenheit zwischen uns nie
nachgelassen.
Unsere Familie war in der religiösen Kultur tief verwurzelt.
Und als Sohn katholischer Eltern wurden auch an mich immer gewisse
Anforderungen gestellt. So musste ich ganz selbstverständlich
das Messlatein verstehen, beim Segen fröhlich mitsingen,
wöchentlich zur Beichte gehen, den Kreuzweg gehen, Rosenkranz
beten, die Litaneien singen, neun Herz-Jesu Freitage feiern,
Novenen beten, Ablässe erlangen... und so weiter. Für
mich war diese ganze Anhäufung religiöser Praktiken
einfach zu viel und ich reagierte negativ darauf. Ich forderte
die Autorität der Kirche heraus, weigerte mich, an Mysterien
und Wunder zu glauben, und fand die ganzen Gebetbücher
langweilig und repetitiv. Ich zog es vor, mit meinem Schöpfer
in direkten und eigenen Worten zu sprechen, die ich mir selber
einfallen ließ, anstatt vorformulierte Floskelgebete zu
benutzen.
In meinem späteren Leben brachte Tony mich dazu, lieber
über Inhalte zu diskutieren, statt einfach nur zu rebellieren.
Er forderte mich auf, in Worten auszudrücken, was ich wirklich
über Religion dachte und fühlte.
Kleine Kämpfe
Als ich noch klein war, war Tony für mich eine Lichtgestalt
an Tugend - und ich daneben der flegelhafte kleine Junge. Ich
erinnere aber auch, dass Tony sich auf meine Seite zu stellen
pflegte, wenn zwischen mir und meinen Schwestern Streit ausbrach
- aber er wusste auch ganz genau, wo eine Grenze zu setzen war.
Bei einer Auseinandersetzung mit meiner Schwester warf ich ihr
den Ausdruck "bloody fool" an den Kopf (etwa: "blöder
Spinner"). Tony regte sich heftig über meine Ausdrucksweise
auf, legte mich übers Knie und verpasste mir eine Tracht
Prügel, verbunden mit der Mahnung, nie wieder solche Ausdrücke
zu benutzen. Ich begann ihn zu fürchten, und in meiner
Erinnerung an ganz früher sehe ich ihn als einen strengen
Zuchtmeister.
Als Tony ins Priesterseminar eintrat, war er ein "in der
Wolle gefärbter" Katholik - getränkt mit Rechtgläubigkeit,
Loyalität und dem Vorsatz, jede Doktrin bis zum Tod zu
verteidigen. Bei einem der seltenen Familienbesuche im Priesterseminar
während seiner Novizenzeit geriet eine meiner Schwestern
mit Tony über ein religiöses Thema in ein Wortgefecht.
Tony ging sie wütend an und haute ihr die Kirchenlehre
um die Ohren: "Mutter Kirche hat Recht - und du hast Unrecht.
Du sollst solche Dinge nicht in Frage stellen. Der Papst ist
unfehlbar." Ohne dies direkt auszusprechen, warnte er sie
doch unmissverständlich, dass ihre Einstellung sie geradewegs
in die Hölle führen könnte. |
|
Ein Familienfoto aus dem Jahre 1952, kurz bevor
Tony das Schiff bestieg, um nach Spanien zu reisen:
Marina, Frank (unser Vater), Tony, Bill, Louisa (unsere Mutter)
und Grace.
© Copyright Bill de
Mello
Das Rollenmodell
Tony genoss in der Familie eine gewisse Ehrfurcht wegen seiner
rigiden Einstellungen zu Gut und Böse. Unbewusst begannen
wir, ihm fast eine Art Verehrung zukommen zu lassen.
Doch Tony begann sich schon wenige Jahre später zu verändern
- ich meine, es war nach seiner Rückkehr aus Spanien. Ich
habe diese Veränderung, diese Transformation, die ich später
noch beschreiben werde, selbst miterlebt. Es schien mir damals,
als ob er seine Rigidität, seine Strenge und Unbeugsamkeit
abgelegt hätte und in seinen Ansichten über die Dogmen
der Kirche und Disziplin sehr viel flexibler geworden sei.
Es war ganz natürlich, dass meine Eltern mir Tony als Rollenmodell
hinstellten. Obwohl ich das nicht leiden konnte, war es jedoch
nie ein Anlass für Eifersucht oder Neid. Tatsächlich
erinnere ich, dass ich seine Tugenden damals als völlig
normal akzeptierte. Schließlich war er das älteste
Kind und älterer Bruder, von dem man solche Tugenden einfach
erwartete.
Während meiner ganzen Schulzeit hielten mir andere Geistliche
immer meinen berühmten Bruder vor die Nase und stellten
mir die Frage, warum ich in akademischer Hinsicht wohl so verschieden
von ihm sei. Einige Geistliche waren, meiner Vermutung nach,
einfach nur neidisch auf Tonys Karriere in der "Gesellschaft
Jesu" und verhielten sich gehässig, wann immer sich
eine Gelegenheit dafür bot. Auch die Jesuiten haben, meiner
Einschätzung nach, eine gewisse Hackordnung, so wie andere
Menschen im Leben außerhalb eines Ordens auch.
Ich war sehr stolz auf Tony als Bruder, aber es kam mir nie
in den Sinn, dass ich etwa seine Leistungen nachmachen sollte.
Wann immer wir zusammenkamen, gab Tony sich immer große
Mühe, seine Fortschritte im Orden herunterzuspielen und
statt dessen Achtung für meine sportlichen Leistungen zu
zeigen. Nie hat er mich wegen meiner "Minderleistungen"
im Studium oder wegen mangelndem religiösen Glaubenseifer
ermahnt.
|