Biografie


Teil 4
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Die Gebrüder de Mello

Tony und ich waren sowohl körperlich als auch geistig sehr verschieden. Während ich ein großer Freund von Fußball, von Hockey und Leichtathletik war, hatte Tony "zwei linke Füße".

Wo Tony große Schlucke aus dem Brunnen des Glaubens nahm - da brachte ich es höchstens zu einem Gurgeln. Er war ein überzeugter Gläubiger - ich ein Zweifler. In der Schule wurde mir der Katechismus eingetrichtert, und nie werde ich die Definition für "Glauben" vergessen, die dort angeführt wurde: "Glaube ist ein übernatürliches Geschenk Gottes." Dieses Geschenk wurde Tony in der Größenordnung einer Lastwagenladung gemacht - zu mir gelangte nur so viel, wie in eine Streichholzschachtel passt. So sehr wie Tony von Natur aus religiös veranlagt war, war ich von Natur aus indifferent. Glaube hat in mir nie gezündet - nie war ich vom Glauben entbrannt. Doch trotz all dieser Unterschiede hat die Kraft der brüderlichen Verbundenheit zwischen uns nie nachgelassen.

Unsere Familie war in der religiösen Kultur tief verwurzelt. Und als Sohn katholischer Eltern wurden auch an mich immer gewisse Anforderungen gestellt. So musste ich ganz selbstverständlich das Messlatein verstehen, beim Segen fröhlich mitsingen, wöchentlich zur Beichte gehen, den Kreuzweg gehen, Rosenkranz beten, die Litaneien singen, neun Herz-Jesu Freitage feiern, Novenen beten, Ablässe erlangen... und so weiter. Für mich war diese ganze Anhäufung religiöser Praktiken einfach zu viel und ich reagierte negativ darauf. Ich forderte die Autorität der Kirche heraus, weigerte mich, an Mysterien und Wunder zu glauben, und fand die ganzen Gebetbücher langweilig und repetitiv. Ich zog es vor, mit meinem Schöpfer in direkten und eigenen Worten zu sprechen, die ich mir selber einfallen ließ, anstatt vorformulierte Floskelgebete zu benutzen.

In meinem späteren Leben brachte Tony mich dazu, lieber über Inhalte zu diskutieren, statt einfach nur zu rebellieren. Er forderte mich auf, in Worten auszudrücken, was ich wirklich über Religion dachte und fühlte.


Kleine Kämpfe

Als ich noch klein war, war Tony für mich eine Lichtgestalt an Tugend - und ich daneben der flegelhafte kleine Junge. Ich erinnere aber auch, dass Tony sich auf meine Seite zu stellen pflegte, wenn zwischen mir und meinen Schwestern Streit ausbrach - aber er wusste auch ganz genau, wo eine Grenze zu setzen war. Bei einer Auseinandersetzung mit meiner Schwester warf ich ihr den Ausdruck "bloody fool" an den Kopf (etwa: "blöder Spinner"). Tony regte sich heftig über meine Ausdrucksweise auf, legte mich übers Knie und verpasste mir eine Tracht Prügel, verbunden mit der Mahnung, nie wieder solche Ausdrücke zu benutzen. Ich begann ihn zu fürchten, und in meiner Erinnerung an ganz früher sehe ich ihn als einen strengen Zuchtmeister.

Als Tony ins Priesterseminar eintrat, war er ein "in der Wolle gefärbter" Katholik - getränkt mit Rechtgläubigkeit, Loyalität und dem Vorsatz, jede Doktrin bis zum Tod zu verteidigen. Bei einem der seltenen Familienbesuche im Priesterseminar während seiner Novizenzeit geriet eine meiner Schwestern mit Tony über ein religiöses Thema in ein Wortgefecht. Tony ging sie wütend an und haute ihr die Kirchenlehre um die Ohren: "Mutter Kirche hat Recht - und du hast Unrecht. Du sollst solche Dinge nicht in Frage stellen. Der Papst ist unfehlbar." Ohne dies direkt auszusprechen, warnte er sie doch unmissverständlich, dass ihre Einstellung sie geradewegs in die Hölle führen könnte.

Ein Familienfoto aus dem Jahre 1952, kurz bevor Tony das Schiff bestieg, um nach Spanien zu reisen:
Marina, Frank (unser Vater), Tony, Bill, Louisa (unsere Mutter) und Grace.

© Copyright Bill de Mello


Das Rollenmodell

Tony genoss in der Familie eine gewisse Ehrfurcht wegen seiner rigiden Einstellungen zu Gut und Böse. Unbewusst begannen wir, ihm fast eine Art Verehrung zukommen zu lassen.
Doch Tony begann sich schon wenige Jahre später zu verändern - ich meine, es war nach seiner Rückkehr aus Spanien. Ich habe diese Veränderung, diese Transformation, die ich später noch beschreiben werde, selbst miterlebt. Es schien mir damals, als ob er seine Rigidität, seine Strenge und Unbeugsamkeit abgelegt hätte und in seinen Ansichten über die Dogmen der Kirche und Disziplin sehr viel flexibler geworden sei.
Es war ganz natürlich, dass meine Eltern mir Tony als Rollenmodell hinstellten. Obwohl ich das nicht leiden konnte, war es jedoch nie ein Anlass für Eifersucht oder Neid. Tatsächlich erinnere ich, dass ich seine Tugenden damals als völlig normal akzeptierte. Schließlich war er das älteste Kind und älterer Bruder, von dem man solche Tugenden einfach erwartete.

Während meiner ganzen Schulzeit hielten mir andere Geistliche immer meinen berühmten Bruder vor die Nase und stellten mir die Frage, warum ich in akademischer Hinsicht wohl so verschieden von ihm sei. Einige Geistliche waren, meiner Vermutung nach, einfach nur neidisch auf Tonys Karriere in der "Gesellschaft Jesu" und verhielten sich gehässig, wann immer sich eine Gelegenheit dafür bot. Auch die Jesuiten haben, meiner Einschätzung nach, eine gewisse Hackordnung, so wie andere Menschen im Leben außerhalb eines Ordens auch.
Ich war sehr stolz auf Tony als Bruder, aber es kam mir nie in den Sinn, dass ich etwa seine Leistungen nachmachen sollte. Wann immer wir zusammenkamen, gab Tony sich immer große Mühe, seine Fortschritte im Orden herunterzuspielen und statt dessen Achtung für meine sportlichen Leistungen zu zeigen. Nie hat er mich wegen meiner "Minderleistungen" im Studium oder wegen mangelndem religiösen Glaubenseifer ermahnt.

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